Title
Nahrung nach Norm. Regulierung von Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871-1914


Author(s)
Hierholzer, Vera
Series
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 190
Published
Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
399 S.
Price
€ 56,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Christoph Nonn, Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Vera Hierholzers Studie verbindet in methodischer Hinsicht drei verschiedene Ansätze miteinander. Entstanden ist sie als Doktorarbeit im Rahmen einer Nachwuchsgruppe „Recht in der Industriellen Revolution“ am Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte. Eingereicht wurde die Doktorarbeit am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte von Werner Plumpe. Wirtschafts- und Rechtsgeschichte werden in ihr verknüpft und – einem allgemeinen Trend folgend – kulturalistisch erweitert.

Als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen konstatiert Hierholzer zunächst eine neue Quantität und Qualität des Klagens über Verfälschungen von Nahrungsmitteln seit den 1870er-Jahren. Zu Recht wendet sie sich gegen die in der älteren Literatur oft vorherrschende Praxis, diese Klagen für bare Münze zu nehmen. Ob es eine Zunahme von Verfälschungen gegeben hat, lässt sich aus Mangel an zuverlässigen Quellen tatsächlich nicht feststellen. Stattdessen, so die aus der Not eine Tugend machende Autorin, könne man nur von einer „Krise des Vertrauens“ sprechen. Leider beruht dieser Befund zwar ebenfalls mehr auf Impressionen als auf nachprüfbaren Belegen, denn ob es vor den 1870er-Jahren weniger Klagen über Nahrungsverfälschung gab, wird von ihr nicht näher untersucht – auch nicht in einem kurzen Kapitel über Nahrungsmittelregulierung vor der Gründung des Kaiserreichs (S. 53-78). Dennoch erscheint er einigermaßen plausibel. Denn zum einen verbesserte sich die Grundversorgung mit Nahrungsmittel im späten 19. Jahrhundert merklich, so dass weniger deren Menge als vielmehr ihre Qualität in den Fokus trat. Zum anderen begann die Lebensmittelchemie zunehmend belastbare Kategorien zu liefern, um diese Qualität zu bestimmen. Und schließlich führten der Bedeutungsgewinn überlokaler und überregionaler Märkte ebenso wie die Industrialisierung des Nahrungsmittelgewerbes zu einem wachsenden Auseinandertreten von Produktion und Verbrauch. Ob viel damit gewonnen ist, wenn man diesen hinreichend bekannten Prozess mit Anthony Giddens „Entbettung“ nennt, mag dahingestellt sein. Jedenfalls aber führte er zweifellos zu einer Veränderung des Verhältnisses von Erzeugern, Handel und Konsumenten, zu deren Folgen man durchaus einen „Verlust von Vertrauen“ zählen kann (S. 33-52).

Hierholzer konzentriert sich vor allem darauf, nachzuzeichnen, wie verschiedene Akteure diesen Vertrauensverlust zu kompensieren suchten. Auf staatlicher Ebene geschah das vor allem durch das Nahrungsmittelgesetz von 1879, dessen Entstehung und – unvollständige – Implementierung im Einzelnen nachgezeichnet wird. Angesichts der Vielzahl von widerstreitenden Interessen schuf das Gesetz freilich nur einen Rahmen, den daraufhin nichtstaatliche Akteure zu füllen versuchten. Wissenschaftliche Expertise war bereits in der Vorbereitung der staatlichen Gesetzgebung beträchtlich aufgewertet worden; bis zum Ersten Weltkrieg nahm die Aktivität und Bedeutung von Wissenschaftlern als „Vertrauenswächtern“ noch weiter zu. Im Zusammenspiel mit Kommunen und Einzelstaaten kam besonders der „Freien Vereinigung von Nahrungsmittelchemikern“ dabei eine zentrale Rolle zu. Mit der Wissenschaft rivalisierend und von ihr angespornt, bemühte sich das Nahrungsmittelgewerbe ebenfalls darum, Vertrauen in seine Produkte zu generieren. Das geschah etwa in Form von Marketingstrategien, die Qualität in den Mittelpunkt stellten. Verbreitet waren auch Selbstregulierungen, sei es in Form einer Einigung auf verbindliche Qualitätsstandards in einzelnen Branchen oder als branchenübergreifende Normsetzungen des 1901 gegründeten Bundes der Nahrungsmittel-Fabrikanten. Schließlich bemühten sich noch verschiedene Verbrauchergruppen – sowohl bürgerliche Aufklärungs- und Selbsthilfevereine als auch die eher proletarisch geprägten Konsumvereine – um eine Profilierung als Regulative von Nahrungsmittelproduktion und -handel. Ihr Ziel erreichten sie allerdings offenbar ansatzweise nur dann, wenn sie das Bemühen um die Qualität der Nahrung mit dem um niedrige Preise verbanden, wie es die Konsumvereine taten.

Hierholzer interpretiert diese vielschichtigen Versuche einer Regulierung von Nahrungsmittelqualität als Beispiel für die gesellschaftliche Pluralisierung von Normsetzungen. Diese These wird in den Quellen breit belegt und aus stupender Kenntnis der einschlägigen Literatur heraus souverän abgestützt. Als etwas bemühte Aktualisierung erscheint freilich die Schlussthese, angesichts dieses Befundes sei die These vom „starken Staat“ des 19. Jahrhunderts „als Kontrapunkt zu den aktuellen rechtspluralistischen Strukturen“ zu überdenken. Denn wenn die plurale Normsetzung „im Kaiserreich vielfach als behelfsmäßige Interimslösung empfunden“ wurde, aber heute „als notwendige und adäquate Form der Nahrungsmittelregulierung aufgefasst“ wird (S. 353), dann legt das doch gerade nahe, dass im Kaiserreich tatsächlich der „starke Staat“ noch als Norm galt, sich zumindest in den Köpfen – und darum muss es aus der hier eingenommenen Perspektive ja gehen – also durchaus eine Entwicklung vom monolithischen zum pluralistischen Bild des Gemeinwesens vollzogen hat. Es ist deshalb auch etwas schade, dass die Geschichte der Nahrungsmittelregulierung im Kaiserreich nur sehr wenig in eine größere Perspektive eingebettet wird.

Die Konzentration auf die Kategorie „Vertrauen“ führt zudem dazu, dass die Aufmerksamkeit vor allem den Bemühungen der zeitgenössischen Akteure um die Herstellung von gesellschaftlicher Harmonie gilt. Soziale Interessengegensätze stehen dagegen, wie vielfach in kulturalistisch inspirierten Arbeiten, nicht im Fokus. Das ist umso auffälliger, als sie dennoch immer wieder in der Darstellung auftauchen, aber dann höchstens zur anekdotischen Ausschmückung verwendet werden. Besonders amüsant geschieht das etwa bei der Wiedergabe des zeitgenössischen Geschichtenwettstreits zwischen Lebensmittelchemikern und Detaillisten der Nahrungsmittelbranche darum, wessen Schicksal im Himmel am meisten Mitleid hervorrufen werde (S. 163, 209). Beispiele wie dieses lassen sich freilich auch als Belege dafür lesen, was die nicht am niedrigsten zu bewertende Qualität von Vera Hierholzers Studie ausmacht: ihre für eine akademische Qualifikationsarbeit außerordentliche Lesbarkeit.

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